Wer würde wohl eine präzisere Schätzung über das Gewicht eines Ochsen abgeben? Ein Bauer, der täglich seine Brötchen mit dem Verkauf von Rindvieh verdient oder das Publikum eines Jahrmarkts, eine bunte Mischung von Menschen verschiedener Altersgruppen und kognitiven Fähigkeiten mit unterschiedlichsten beruflichen Hintergründen? Die naheliegende Vermutung: Die Schätzung der breiten Massen wird das tatsächliche Ergebnis aufgrund der großen Anzahl an „Nicht-Experten“ deutlich verfehlen. So lautete auch die Hypothese von Francis Galton, der dieses Experiment 1906 durchführte, indem er das Mittel aller abgegebenen Schätzungen bildete. Das Ergebnis war verblüffend. Mit einer durchschnittlichen Schätzung von 1.197 Pfund verfehlten die Jahrmarktbesucher den tatsächlichen Wert nur um ein Pfund. Somit waren sie näher am tatsächlichen Wert als die beste Schätzung, die von einem einzelnen Besucher abgegeben wurde. Zufall?
Mit diesem Beispiel leitet James Surowiecki sein Buch „The Wisdom of Crowds“ (2004) ein. In “Wisdom of the Crowds” beschreibt Surowiecki ein verblüffendes Phänomen, das seit der Veröffentlichung des Buches hohe Wellen in den Sozial- und Geisteswissenschaften geschlagen hat und auch in den Populärwissenschaften vielfach beleuchtet wurde. Surowiecki zeigt, dass Gruppen als Gesamtheit unter bestimmten Voraussetzungen meist intelligenter sind, als die klügsten Individuen dieser Gruppen. Dies gilt – entgegen der Erwartung – auch, wenn eine Gruppe nicht von überdurchschnittlich intelligenten bzw. fachkundigen Individuen dominiert wird (Surowiecki 2004, S. 13f.).
Surowiecki beschreibt in der Theorie das, worauf sich das Konzept von Insights in der Praxis stützt: „Viele wissen mehr als Wenige!“ Doch damit die Weisheit der Vielen auch tatsächlich zu besseren Entscheidungen führt, müssen vier Bedingungen erfüllt sein.
Diversität ist wohl das Buzzword dieses Jahrzehnts und meint insbesondere die Einbeziehung von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen, sozioökonomischen und politischen Hintergründen zur Förderung individueller Verschiedenheit in Organisationen und in der Gesellschaft. Vielfalt hat einen positiven Einfluss auf die Performance von Unternehmen, Initiativen und weiteren Organisationen – so lautet der wissenschaftliche Konsens. Und auch Surowiecki sieht Diversität als notwendige Bedingung für den Erfolg von “crowd wisdom”. Er unterscheidet zwischen zwei Entscheidungsproblemen. Zum Einen gibt es Entscheidungen, deren Entscheidungsoptionen bereits determiniert sind, wie z.B. der Ausgang der Stichwahl bei den französischen Präsidentschaftswahlen – entweder wird Emmanuel Macron oder Marine Le Pen Nachfolger von Francois Hollande. Zum Anderen gibt es Entscheidungen mit nicht festgelegten Handlungsoptionen; das heißt, dass noch nicht alle möglichen Entscheidungsalternativen festgelegt sind. Laut Surowiecki hat Diversität einer Gruppe einen positiven Einfluss auf die Güte der kollektiven Entscheidung in beiden Arten von Entscheidungsproblemen. Diversität verleiht einer Gruppe die Fähigkeit, möglichst viele und insbesondere unterschiedliche Alternativen zu finden (Surowiecki 2004, S. 28). Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die beste Handlungsoption unter den Vorschlägen zu finden ist. Surowiecki zeigt weiter, dass auch bei Entscheidungsproblemen, deren Lösungsalternativen bereits determiniert sind, die Qualität der Entscheidung durch Diversität erhöht wird, da das Problem von unterschiedlichen Perspektiven aus beleuchtet wird. Im Gegensatz dazu unterliegen homogene Gruppen häufig dem Phänomen des group-thinking.
“Cognitive diversity is essential to good decision making. The positive case for diversity, as we've seen, is that it expands a group's set of possible solutions and allows the group to conceptualize problems in novel ways” (Surowiecki 2004, S. 36).
Als zweite Bedingung für den Erfolg von Crowd Wisdom nennt Surowiecki Dezentralität. Der Begriff Dezentralität beschreibt grundsätzlich den Ansatz Entscheidungsprobleme bottom-up anzugehen. Konkret bedeutet dies, dass eigennützige, voneinander unabhängige Individuen im Kollektiv eine bessere Lösung für ein Entscheidungsproblem liefern, wenn sie dezentral, also selbstorganisiert sind, als wenn sie in einer steilen Hierarchie top-down gelenkt werden. (Surowiecki 2004, S. 70). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich dezentrale Entscheidungsprozesse dadurch auszeichnen, dass sie von mehreren Individuen gemeinsam und nicht von einer “allwissenden” Person allein durchgeführt werden.
Dennoch ist unbestritten, dass kollektive Entscheidungen nicht grundsätzlich besser sind, wie die Entscheidungen zum Brexit sowie die Wahl von Donald Trump gezeigt haben. Wie im vorangehenden Abschnitt erläutert, sind Diversität und Dezentralität zwei notwendige Bedingungen dafür, dass kollektive Entscheidungen eine hohe Qualität aufweisen. Ein weiterer notwendiger Faktor für die Überlegenheit kollektiver Entscheidungen ist die Unabhängigkeit der Individuen innerhalb der Gruppe. Laut Surowiecki führt die Unabhängigkeit zu zwei entscheidenden Vorteilen:
Voneinander abhängige individuelle Entscheidungen innerhalb einer Gruppe – so Surowiecki – unterliegen im Gegensatz dazu der Gefahr von Informationskaskaden oder Herdenverhalten. Dies kann dazu führen, dass die kollektive Entscheidung nicht auf der Weisheit der Vielen sondern eher auf der Dummheit der Vielen basiert. Herdenverhalten tritt auf, wenn Gruppenmitglieder Informationen über die Entscheidungen der anderen Individuen erlangen, bevor sie ihre eigene Entscheidung treffen. Die Gefahr besteht darin, dass sich diese Gruppenmitglieder, entgegen ihrer persönlichen Überlegungen und Informationen, von den Entscheidungen der übrigen Mitglieder beeinflussen lassen, diese als rational und sinnvoll auffassen und ihnen schlussendlich folgen. Je mehr Individuen sich für eine Handlungsoption entscheiden, desto rationaler und sinnvoller erscheint diese für die übrigen Individuen und desto wahrscheinlicher folgen sie dieser Entscheidung (Surowiecki 2004, S. 43, 51-55). Es kommt zu einem Dominoeffekt und schließlich zu einer dummen kollektiven Entscheidung. Hierbei sei an das Entstehen und Platzen von Blasen an Finanzmärkten sowie die Dynamiken von Shit-Storms in Sozialen Medien erinnert.
Durch die drei vorgestellten Bedingungen wird sichergestellt, dass die richtigen Personen (Diversität), in der richtigen Weise innerhalb der Gruppe organisiert sind (Dezentralität) und die Informationen im richtigen Umfang und der richtigen Qualität (Unabhängigkeit) vorliegen, sodass eine intelligente kollektive Entscheidung getroffen werden kann. Doch wie entsteht nun aus den einzelnen Beiträgen bzw. Entscheidungen der Gruppenmitglieder die kollektive Entscheidung und welche Voraussetzungen müssen dabei beachtet werden? Das Stichwort lautet Aggregation. Surowiecki sieht Aggregation nicht als eigenständige Bedingung, sondern eher als Teil-Bedingung, um die Vorteile der Dezentralität zu nutzen (Surowiecki 2004, S. 75).
Die Weisheit der Vielen kann nur dann zu einer besseren Entscheidung führen, wenn ein geeigneter Mechanismus zur Aggregation der Einzelentscheidungen angewandt wird. Dabei muss darauf geachtet werden, die Vorteile der Dezentralität zu wahren. Surowiecki beschreibt nicht im Detail, welche Methoden zur Aggregation als geeignet anzusehen sind. Das kollektive Ergebnis soll die Einzelurteile jedoch möglichst repräsentativ, objektiv und unverzerrt darstellen. Als Beispiel für einen solchen “neutralen” Aggregationsmechanismus nennt Surowiecki die Preisbildung auf Märkten. Der Preis einer Aktie reflektiert beispielsweise sehr effektiv und präzise das kollektive Urteil von Investoren am Aktienmarkt (Surowiecki 2004, S. 9, 74).
Es ist Montagabend, 20:15 Uhr! Das sympathische Gesicht von Günther Jauch flackert über den Bildschirm und es heißt mal wieder Miträtseln und über das deutsche Bildungsniveau herziehen. Simone hat sich zu Anfang der Sendung durchgesetzt und sitzt nun Jauch gegenüber, der mit unterschwelligen Hinweisen versucht, sie auf die richtige Antwort zu bringen. Doch Simone ist sich nicht sicher und zieht den Publikumsjoker. 83% stimmen für Antwort A, 11% für Antwort B, 6% für Antwort C, niemand für Antwort D. Aber wie verlässlich ist das Urteil des Publikums wirklich? Wer sind die Zuschauer, welchen Bildungsabschluss haben sie und wie gut sind ihre Kenntnisse über die Vegetation der Savanne – Gegenstand der Frage mit der sich Simone die 16.000 Euro sichern könnte.
“Wer wird Millionär” ist ein klassisches Praxisbeispiel für die Überlegenheit von Crowd Wisdom gegenüber der Intelligenz einzelner Individuen. Crowd Wisdom zeigt sich hier in der bemerkenswerten Treffsicherheit des Publikumsjokers die richtige Antwort “vorherzusagen”, insbesondere im Vergleich zu den "Experten”, die als Telefonjoker eingesetzt werden können. In 91% der Fälle war die kollektive Antwort des Publikums richtig, die Experten hingegen wussten nur bei 65% der Fragen die richtige Antwort. Zwar kann an dieser Stelle eingewendet werden, dass sich die beiden Joker aufgrund ihrer unterschiedlichen Rahmenbedingungen nicht direkt miteinander vergleichen lassen. Dennoch liegt die Vermutung sehr nahe, dass “Wer wird Millionär” den Erfolg von Crowd Wisdom in der Praxis belegt (Surowiecki 2004, S. 4).
Ein weiteres Paradebeispiel für die Leistungsfähigkeit von Crowd Wisdom ist die Internetplattform CrowdMed. Das 2013 gegründete Start-Up bedient sich der Weisheit der Vielen, um komplexe, bisher ungelöste Krankheitsfälle zu lösen. Gegen eine geringe Gebühr von knapp 150 Euro können Patienten ihren Krankheitsverlauf, Symptome, eingenommene Medikamente sowie weitere Details zu ihrem Krankheitsbild online veröffentlichen. Daraufhin können Individuen – mit und ohne medizinisches Vorwissen – Antworten mit Diagnosen über die Plattform einreichen. Der Algorithmus von CrowdMed aggregiert anschließend die Antworten und erstellt daraus drei Diagnosen, die dem Patienten übermittelt werden. Seit der Gründung von CrowdMed konnten so mehrere hundert Fälle gelöst werden.
Um eine Unterscheidung zwischen den Konzepten des Crowdsourcing und Surowieckis Weisheit der Vielen dreht sich ein weiterer Blogartikel, den Sie hier aufrufen können. Wenn Sie sich dafür interessieren, wie Insights Entscheidungsträger im öffentlichen und privaten Sektor dabei unterstützt, die Weisheit der Vielen zu nutzen, stehen für diesen Zweck einige Case Studies auf unserer Webseite bereit.
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Surowiecki, J. (2004) "The Wisdom of Crowds: Why the Many Are Smarter Than the Few and How Collective Wisdom Shapes Business, Economies, Societies and Nations." New York, Anchor